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»Todesurteile wurden zur billigen Ware«

Mit Fallbeil, Sondergesetzen und furchtbaren Juristen wütete der NS-Staat unter der eigenen Bevölkerung. Allein während des Krieges kamen im Reichsgebiet rund 16 000 Bürger auf dem »ordentlichen« Rechtsweg zu Tode. Ein früherer Strafverteidiger beschreibt jetzt den blutigen Juristenalltag am Ende des Dritten Reiches.
aus DER SPIEGEL 15/1981

Am Tag vor der Hinrichtung erhielt der Verteidiger Bescheid, am Abend der Gefangene selbst. Für die letzte halbe Stunde waren noch zwei Besuche erlaubt, der Gefängnisgeistliche und der Anwalt, für jeweils zehn Minuten. Beide begleiteten schließlich auch die acht Soldaten, die den Verurteilten abführten.

Es ging einen langen Gang entlang, eine Treppe nach unten, dann kam wieder ein langer Gang und am Ende eine Eisentür mit der Guillotine dahinter. Der Anwalt blieb unschlüssig an der Tür stehen, der Schließer sagte: »Heil Hitler, Herr Rechtsanwalt, ich geh'' auch nicht mehr hinaus. Sie können wieder gehen. Ich muß ja noch hierbleiben, ist schon nicht einfach, Nacht für Nacht dasselbe.«

Die Szene eines Spätherbstmorgens 1943 im Berliner Gefängnis Plötzensee wiederholte sich tatsächlich immer öfter in den Strafanstalten des Deutschen Reichs. Beil, Galgen und Erschießungskommandos wüteten gegen Wehrkraftzersetzung, Defätismus und Feindbegünstigung, gegen Volksschädlinge und Ehrlose -- alles Begriffe aus dem Nazi-Vokabular, die ganz offiziell in den Sprachgebrauch der Strafrechtspflege übergegangen waren.

Je länger der Krieg dauerte und je schlechter er lief, so brutaler kehrte sich Nazi-Gewalt auch nach innen, terrorisierte Hitlers Gerichtswesen die Bevölkerung. Auch die Justiz, so hatte Hitler 1942 befohlen, habe »nur einem einzigen Gedanken zu gehorchen, nämlich dem der Erringung des Sieges«.

Und wie sie gehorchte -- rund 16 000 Todesurteile wurden in der Zeit zwischen 1940 und Kriegsende in Deutschland gefällt und meist auch vollstreckt. Anders als bei den Liquidierungen durch die Gestapo -- in vielfach höherer Zahl -- exekutierten Hitlers furchtbare Juristen auf dem ordentlichen Rechtsweg, meist nach dem rigorosen Kriegssonderstrafrecht und wegen politischer Taten. Regimefeindliche Geistliche oder kommunistische Widerständler mußten dadurch sterben, ebenso Schieber, Hitlerwitze-Erzähler, Zuhörer ausländischer Sender.

Allein in Plötzensee wurden von 1940 an 1785 Menschen hingerichtet. Hier war es auch, wo im Herbst 1943 der Strafverteidiger Dietrich Güstrow den letzten Weg eines Mandanten bis zur Eisentür miterlebt hatte. »Todesurteile waren zur billigen Ware geworden, auf Menschenleben wurde keine Rücksicht mehr genommen«, schreibt Güstrow in seinem Erinnerungsbuch über den blutigen Juristenalltag gegen Ende des Nazireichs.

( Dietrich Güstrow: »Tödlicher Alltag«. ) ( Verlag Severin und Siedler, Berlin; 272 ) ( Seiten; 34 Mark. )

Güstrow, nach dem Kriege Kommunalpolitiker in Niedersachsen, hat die Zeit des Dritten Reichs in Berlin verbracht -- einer von 2000 Juristen, die nach Ausschaltung der etwa 600 jüdischen Kollegen in der Reichshauptstadt noch Anwalt oder Notar sein durften.

Es gab immer mehr Mandanten und immer weniger Rechte. Während die Bomben mit der Zeit Berlin fraßen -- 50 000 Menschen, ein Fünftel aller Gebäude --, arbeiteten Strafverteidiger auch beruflich zunehmend im »dunkeln und halbdunkeln«, taktierten und tricksten mit dem System, kamen für ihre verlorenen Mandanten oft genug in die Lage, »wo jedes falsche Wort den Anwalt zum Häftling machen konnte«.

Verteidiger Güstrow kam während des Krieges mit Angeklagten verschiedenster Deliktarten zusammen. Taten, Vorgeschichten und Gesetzesnormen, derentwegen sie vor die Justiz gerieten, S.54 spiegeln das System, dem das Leben in Hitlers Deutschland unterworfen war.

Der Polizeistaat hatte für ein Klima aus Einschüchterung und Meinungsverbot gesorgt. Versorgungsnot stiftete Kleinkriminalität an, Erziehungsterror machte Denunzianten. Über allem schwang ein Büttelheer von Staatsdienern das Beil -- Furcht und Elend im Dritten Reich.

Einer von Güstrows Mandanten hatte im Spätsommer 1939 gestohlene Hühner weiterverkauft. Komplize war ein Bekannter, der das Federvieh nächtens aus Schrebergärten klaute. Fälle wie dieser sollten dem erschreckten Prozeßpublikum einbleuen, daß es seit Kriegsausbruch eine neue Rechtswirklichkeit gab: Da drei oder vier der Hühner während der nächtlichen Verdunkelung beschafft worden waren, galt statt der üblichen Diebstahlsparagraphen auf einmal die »Verordnung gegen Volksschädlinge« einschlägig.

Die Strafe, verkündet vom Sondergericht II in Moabit, fiel auch entsprechend aus. Der Dieb wurde zum Tode verurteilt und schon eine Woche später, im Oktober 1939, geköpft; der Hehler erhielt acht Jahre Zuchthaus und Mitte 1944 »Bewährung« im Strafbataillon. Dort kam er um.

Im Strafbataillon endete auch ein anderer Güstrow-Mandant, ein wegen Wehrkraftzersetzung belangter Jagdflieger. Der war seinem Staffelführer längere Zeit durch mangelnden Kampfgeist aufgefallen. Einmal hatte er dem Vorgesetzten gar Zweifel am Endsieg klargemacht, wenn auch nur im Kasinosuff: »Übrigens habe ich mich schon einmal zu Ende gesiegt. 1918 nämlich.«

Zwanzig Jahre nach der Kriegsgerichtsverhandlung traf Güstrow den Ex-Staffelführer wieder. Der Belastungszeuge von früher, nun Bundeswehroberst, zeigte dem Anwalt jedoch nur die geläufige Filbinger-Überzeugung, daß nicht jetzt Unrecht sein könne, was damals Rechtens war. Güstrow: »Ein Gerechter ging seines Weges, unwandelbar, selbstgerecht und borniert.«

Ein junger Kaufmann hatte listenreich den Wehrdienst umgangen und sich durch Fürsprache seines Onkels, der mit Hitler bekannt war, während des Krieges eine Bürostelle bei der Spionageabwehr beschafft. Nebenbei handelte er Luxuswaren, die er von Kurierfahrten ins Ausland mitbrachte. S.55

Die Vorteile der Protektion schlugen dem Abwehrkaufmann allerdings unvermittelt ins Gegenteil um, als ein Kriegsgerichtsverfahren in Gang kam: Als »Drückeberger und Volksschädling« wurde der Mann zum Tode verurteilt, und die Begnadigung versagte Hitler aus besonderem Grund -- der Führerfreund und Fürsprecher des Delinquenten hatte sich im Lauf des Verfahrens das Leben genommen.

»Außerordentlich erregt« habe Hitler die Begnadigungsakte an sich gezogen und selbst erledigt, erfuhr Güstrow vom zuständigen Generalrichter: »Die Einstellung des Führers war unerbittlich. Niemand konnte daran etwas ändern.«

Eingriffe von oben waren, zumal zu späteren Kriegszeiten, gang und gäbe. Einmal wurde ein Güstrow-Mandant wegen kleiner Spesenschwindeleien und Unterschlagungen -- zwei Akkordeons und zehn Flaschen Rotwein kamen weg -- zunächst vom Feldgericht zu anderthalb Jahren Haft verurteilt.

Der Oberste Gerichtsherr hatte jedoch das Urteil als zu milde aufgehoben, die neue Verhandlung ergab zehn Jahre Zuchthaus. Nun aber brachte der »Soldatensender Calais«, ein deutschsprachiger englischer Propagandafunk, die Sache noch einmal auf: »Korruption in der Etappe«.

Darauf beantragte der Oberbefehlshaber des Ersatzheeres, Heinrich Himmler, eine zweite Urteilsaufhebung und forderte Todesstrafe für den »Saboteur und Verräter« -- lediglich dank eines couragierten Richters blieb es schließlich bei einer Strafmaßerhöhung auf zwölf Jahre.

Bei vielen Kollegen dieses Kriegsgerichtsrats aber zielte oft schon das Flair der Verhandlungen auf Abschreckung. Güstrow notierte kalte Routine, düstere Amtsmienen, zackig-blasiertes Gebaren, Vorverurteilung insgesamt ("Wir haben schon ganz andere Volksschädlinge zur Strecke gebracht").

Dietrich Güstrow verteidigte auch vor dem Reichskriegsgericht. Kasernenhofton und Angeklagtenbeschimpfung regierten dort, und über »llem thronte »in großer Uniform Senatspräsident Schmauser«. Soba"d » ich die schnarrende und sich wiederholt räuspernde Stimme des » » Vorsitzenden bei Eröffnung der Verhandlung hörte und den auf » » seiner fleischigen Nase wackelnden Klemmer, eine tiefe Falte » » zwischen den Augenbrauen und den fast karikaturistischen » » Bürstenhaarschnitt auf dem eisgrauen Haupte sah, wußte ich, » » daß ich einen schweren Stand haben würde. Der Ton war » » hochfahrend und arrogant, schon die Fragen zur Person und zum » » Lebenslauf, die mit unsachlichen und ironischen Kommentaren » » durchsetzt waren, verrieten die vollkommene » » Voreingenommenheit des Vorsitzenden. »

Schon beizeiten war die Nazi-Justiz durch Umorganisation und Spezialgesetze zum Schlaginstrument geformt worden. Noch auf dem Vorbild einer Weimarer Notverordnung basierten die »Sondergerichte«, politische Kammern S.58 an den Landgerichten mit besonderem Prozeßrecht: Das Verfahren war hier summarisch verkürzt; einziges Rechtsmittel blieb die Wiederaufnahme.

Staatsanwaltschaften entschieden, wer vor dem Sondergericht angeklagt wurde. Meist waren es Menschen, die vom Kriegsstrafrecht betroffen wurden, etwa von der »Volksschädlingsverordnung«, der Verordnung gegen Abhören von Auslandssendern, dem »Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei«.

Für Fälle von Hoch- und Landesverrat wiederum war der »Volksgerichtshof« zuständig, ein noch besser manipulierbares Instrument: Pro Senat amtierten nämlich nur zwei Berufsrichter, neben drei regimegetreuen Laienbeisitzern, Rechtsmittel gab es nicht.

Ein »Besonderer Senat« allerdings konnte nach »außerordentlichem Einspruch« des Oberreichsanwalts Urteile der anderen Senate beliebig verschärfen. Vorsitzender dieses Senats war der Präsident des Volksgerichtshofs, ab 1942 Roland Freisler, unter dessen Vorsitz das Gericht später auch mit den Verschwörern des 20. Juli abrechnete. Freisler war nach Einschätzung des alliierten Juristenprozesses von Nürnberg »der düsterste, brutalste und blutigste Richter« des Dritten Reiches.

Wenn das vorgelegte Beweismaterial »die vollkommene Zerstörung richterlicher Unabhängigkeit und Unparteilichkeit« nicht deutlich mache, dann -- so die US-amtliche Übersetzung des Nürnberger Urteils feierlich -- »ward noch nie geschrieben und niemand hat noch je etwas bewiesen«.

Erster Systemzerstörer war auch hier Adolf Hitler. Von Juristen hatte der sowieso keine hohe Meinung. Er hielt sie für »unglaubliche Leute« mit »spitzbubenmäßiger« Berufsausbildung«, »von Natur defekt«. Laut Aufzeichnung von Henry Picker spottete Hitler in den »Tischgesprächen« mit Vorliebe über die Gesetzeskundigen ("Alle die Rechtsfragen, die von den Juristen erfunden sind, spielen für die Natur keine Rolle").

Diesem Rechtsverständnis entsprachen systematische Einmischungen der Nazi-Administration in sämtliche Justizfragen einschließlich der Rechtsprechung. Hitler selbst schrieb den Richtern vor, wer »von der Volksgemeinschaft liquidiert« werden müsse -- »jeder, der sich aktiv oder passiv aus der Volksgemeinschaft ausschließe«. Goebbels gab bekannt, daß ein Handtaschenraub während der Verdunkelung »ohne weiteres todeswürdig« sei.

Druck auf die Richter gab es allerdings auch aus den eigenen Reihen. Obergerichte regierten den unteren Instanzen bedenkenlos hinein. Die Regelung dieser Richterkontrolle hieß »Vor- und Nachschau«.

In Chefgesprächen zwischen Anklagebehörden und Gerichtsoberen wurde die Rechtsprechung auf die Urteilswünsche von Polizei, SS und Parteispitze eingeschworen; nach den Verhandlungen wurden die Urteile dann »erörtert«. Curt Rothenberger, Justizstaatssekretär, »agte 1942 vor hohen Juristen, was von ihnen erwartet wurde: » » Zunächst die Steuerung der Rechtspflege, und zwar die » » Steuerung durch die Oberlandesgerichtspräsidenten und » » Generalstaatsanwälte, und zwar nicht nur allgemein, sondern » » auch im Einzelfalle. Sie sind uns für jedes Urteil » » verantwortlich, und jeder Richter ist Ihnen für jedes Urteil » » verantwortlich. Hier gibt es keine Entschuldigungsgründe. »

Diese Steuerung hatte Rothenberger, als er noch Präsident des Hamburger Oberlandesgerichts war, in seinem Bereich schon vorher eingeführt. Bei einer Vorschau wies er die Kollegen an, in zwei bestimmten Fällen »nicht allzu viele Umstände zu machen«; bei S.60 einem anstehenden Verfahren um »Rassenschande« befand die Hamburger Vorschau am 16. Mai 1942: »Es wird nur Todesstrafe in Frage kommen.«

In der Nachschau vom 10. Juli 1943 rügte ein Kripo-Vertreter ein zu mildes Urteil (15 Jahre) und empfahl drohend, per Nichtigkeitsbeschwerde ein Todesurteil anzusteuern -- sonst würde sich »eine andere Stelle einschalten«.

»Zwei Kategorien« hat das Nürnberger Urteil, das für den Ex-Staatssekretär Rothenberger auf sieben Jahre Freiheitsstrafe lautete, unter den Richtern des Nazireichs ausgemacht: Die einen versuchten noch »Ideale richterlicher Unabhängigkeit« aufrechtzuerhalten, doch ohne Erfolg: Ihre Urteile seien per Nichtigkeitsbeschwerde oder außerordentlichen Einspruch »beiseite geschoben«, sie selbst »bedroht und kritisiert und manchmal aus dem Amt entlassen« worden.

Die anderen waren »die Richter, die mit fanatischem Eifer den Willen der Partei mit solcher Strenge in die Tat umsetzten, daß sie seitens der Parteifunktionäre keinerlei Schwierigkeiten und wenig Einmischung erlebten«.

Zwischen 1939 und 1943 wurden durch deutsche Gerichte 72 Jugendliche zum Tode verurteilt. Auch verminderte Zurechnungsfähigkeit verfing nicht als Strafmilderungsgrund. Einem offenbar Geistesgestörten, der in einer offenen Postkarte zum Hitler-Attentat aufgerufen hatte, schrieb der Volksgerichtshof ins Todesurteil: »Wessen Verantwortungsfähigkeit durch seine organische Konstitution geschwächt ist, der muß doppelte Kraft einsetzen, um doch anständig zu bleiben.«

Die Soldatenwitwe Marianne Kürschner hatte einen Hitler-Witz erzählt -- Hitler sagt auf dem Funkturm zu Göring, er möchte den Berlinern eine Freude machen, und Göring erwidert, dann solle er mal herunterspringen. »Man bekommt ja geradezu einen Schlag«, echauffierte sich der Volksgerichtshof in der Begründung des Todesurteils; dergleichen ziehe »etwas in die Niederung reichsfeindlicher Propaganda, was uns heilig ist: unseren Führer«.

Vielfach wurden durch höhere Rechtsinstanzen Zeitstrafen kassiert und oft binnen Tagen in Todesurteile umgewandelt.

Manchmal ging auch das der Führung nicht schnell genug. Der jüdische Bürger Markus Luftgas hatte 1941 Eier gehamstert und dafür zweieinhalb Jahre erhalten. Hitler jedoch forderte ausdrücklich die Todesstrafe. Bald meldete der Justizstaatssekretär der Reichskanzlei, er habe den Delinquenten »der S.62 Geheimen Staatspolizei zur Exekution überstellt«.

Ein Rechtsanwalt, der mit ungeschminkter Justizschelte Zweifel an der »Rechtsgeborgenheit in unserem Reich« genährt hatte; der Geistliche, der »abseits, ja feindlich« geblieben war, »als das deutsche Blut in mächtigem Strome von den Alpen bis zur Nordsee sich sein Großdeutsches Reich schuf«; der 17jährige, den das Gericht »reif genug« fand, die Verantwortung für einen spinnerten Spionageplan zu tragen -- alle vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt.

Einem Regierungsrat, der nach Bombenangriffen auf Hamburg sich 1943 für »Frieden um jeden Preis« ausgesprochen hatte und dafür Todesstrafe bekam, gaben die Richter noch eine makabre Variante zum »reue-Verständnis im öffentlichen Dienst mit: Sein Eid auf den » » Führer begründet ein germanisches Treueverhältnis, das den » » ganzen Mann ergreift und nicht, wie er in der » » Hauptverhandlung meinte, nur seine dienstliche Tätigkeit. »

Dieses Nazi-Rechtswesen, so der frühere Präsident des Bundesgerichtshofs Hermann Weinkauff, wirkte als »unerhörtes Antreibersystem zur Erreichung möglichst brutaler Strafen und möglichst vieler Todesstrafen«.

»Kalt und schnell« ging es da zu, wie bei den acht Kommunisten, die der Freisler-Senat des Volksgerichtshofs 1942 verurteilte. Die Gruppe, darunter ein Mandant des Anwalts Dietrich Güstrow, hatte gestanden, Flugblätter produziert und verteilt zu haben. Resultat: die erwarteten Todesstrafen. »Das Urteil ist rechtskräftig«, sagte Freisler bei Sitzungsschluß, und schon zwei Tage später wurde vollstreckt.

Konzessionsbereit erlebte der Berliner Strafverteidiger den Scharfmacher Freisler nur einmal, als das gewohnte blutige Aufräumen gleichbedeutend mit schwerer Kompromittierung des engeren Goebbels-Kreises gewesen wäre.

Einer von Güstrows Klienten war zusammen mit verschiedenen Partei- und SS-Chargen angeklagt, sich im besetzten Bromberg an Eigentum von Polen bereichert zu haben. Unter den Beteiligten war auch ein hochgestellter Funktionär aus dem Reichspropagandaministerium. Vom Anwalt darauf hingewiesen, sagte Freisler, damals noch Justizstaatssekretär: »Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie sich damit gleich an die richtige Schmiede begeben haben.« Geregelt wurde der Fall im Stil von Kabinettsjustiz: Der Goebbels-Vertraute kam an die Front, der von Güstrow vertretene Mitwisser frei -- gegen eine Hundert-Reichsmark-Buße ans Winterhilfswerk.

Eilfertige Bereitschaft zeigten Justizstellen oftmals, wenn es galt, Rufschaden aller Art vom Regime zu wenden. Dann konnte der ganze Apparat ins Schwingen kommen. Der Fall des von Dietrich Güstrow verteidigten Österreichers S.64 Eugen Wasner beschäftigte nacheinander alle Instanzen der Kriegsgerichtsbarkeit bis hinauf zum Führerhauptquartier: Es ging darum, die Verbreitung einer bizarren Hitler-Anekdote zu unterbinden.

Wasner war einst im österreichischen Leonding bei Linz mit Hitler zur Schule gegangen. Unter Frontkollegen galt er als Original, sein Erzählschatz als glaubwürdig.

Unter den Reminiszenzen, die Wasner im Soldatenkreis zum besten gab, mißfiel dem zuständigen Kompaniechef vor allem die eine: »Ach, der Adolf! Der ist ja deppert schon von kleinauf, wo ihm doch ein Ziegenbock den halben Zippedäus abgebissen hat.«

Dann erzählte er, laut Meldung des Vorgesetzten, von einer Knabenwette, wonach Jung-Hitler »einem Ziegenbock ins Maul pinkeln« mußte und das Tier dann dem Täter in den Penis gebissen habe. »Geschrien hat der Adi da aber fürchterlich und ist heulend davongelaufen.«

Der Regimentskommandeur leitete den Fall als Wehrkraftzersetzung und Verstoß gegen das Heimtückegesetz weiter. Wasner wurde verhaftet und das Kriegsgericht eingeschaltet. Derweil ging die Sache schon als »dieses dolle Ding von unseres Gröfaz'' Jugendsünden« durch die Kasinos, wie der Generalrichter Helmuth Rosencrantz dem Verteidiger steckte.

Von Stufe zu Stufe war die skurrile Alpensaga zur Staatsaffäre geworden -- Wasner hatte gleich mehrfach die Reizschwelle berührt, die staatliche Gewaltanwendung auszulösen pflegte: Militärs sahen vor aller Augen die Zucht der Truppe berührt, Parteischranzen öffentlich das Prestige der Bewegung angetastet. Die Justiz hatte es noch am einfachsten -- sie brauchte nur das Heimtückegesetz anzuwenden.

Ein tödlicher Automatismus war in Gang geraten, keine Instanz mochte sich vor der anderen eine Blöße geben, niemand wagte, den Frevel am Führerdenkmal eine Bagatelle zu nennen. So hatte der Angeklagte keine Chance.

Das Zentralgericht des Heeres beeilte sich, das Übel diskret und radikal aus der Welt zu bringen. Als Vorsitzender amtierte »ein kurz angebundener Generalrichter«, der Ankläger verbat sich »nutzlose Beweisanträge«, und so erging das Urteil im glatten Gang: Tod durchs Fallbeil. Das Oberkommando der Wehrmacht bestätigte postwendend, und an Begnadigung war nicht zu denken. Denn der Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel im Führerhauptquartier, so hatte Generalrichter Rosencrantz dem Verteidiger Dietrich Güstrow anvertraut, habe auf Todesstrafe bestanden. Bestätigung des Urteils und Ablehnung des Gnadengesuchs veranlaßte Keitel gleich selbst.

»So schnell hatte ich noch keine Verfahrensabläufe erlebt«, erinnert sich der Anwalt. Drei Tage später wurde sein Mandant enthauptet.

S.55

Sobald ich die schnarrende und sich wiederholt räuspernde Stimme des

Vorsitzenden bei Eröffnung der Verhandlung hörte und den auf seiner

fleischigen Nase wackelnden Klemmer, eine tiefe Falte zwischen den

Augenbrauen und den fast karikaturistischen Bürstenhaarschnitt auf

dem eisgrauen Haupte sah, wußte ich, daß ich einen schweren Stand

haben würde. Der Ton war hochfahrend und arrogant, schon die Fragen

zur Person und zum Lebenslauf, die mit unsachlichen und ironischen

Kommentaren durchsetzt waren, verrieten die vollkommene

Voreingenommenheit des Vorsitzenden.

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S.58

Zunächst die Steuerung der Rechtspflege, und zwar die Steuerung

durch die Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte,

und zwar nicht nur allgemein, sondern auch im Einzelfalle. Sie sind

uns für jedes Urteil verantwortlich, und jeder Richter ist Ihnen für

jedes Urteil verantwortlich. Hier gibt es keine

Entschuldigungsgründe.

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S.62

Sein Eid auf den Führer begründet ein germanisches Treueverhältnis,

das den ganzen Mann ergreift und nicht, wie er in der

Hauptverhandlung meinte, nur seine dienstliche Tätigkeit.

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S.51Dietrich Güstrow: »Tödlicher Alltag«. Verlag Severin und Siedler,Berlin; 272 Seiten; 34 Mark.*S.60unten: als Ex-Staatssekretär bei der Urteilsverkündung im NürnbergerJuristenprozeß.*Oben: als Präsident des Hamburger Oberlandesgerichts;*

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