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BULGARIEN Unter der Hymne des Zaren

Hunger und Kälte treiben die Menschen zu Zehntausenden auf die Straße. Nach der Wende verkam der Balkanstaat zum Armenhaus Europas. Von Christian Neef
aus DER SPIEGEL 4/1997

Natürlich kennt Professor Jordan Dantschew die alte Melodie, die aus den Lautsprechern am Portal der Newski-Kathedrale klingt, über den Platz vor dem Rathaus hallt und sich schließlich an den weißen Mauern des Parlamentsgebäudes bricht.

Es ist Bulgariens Hymne aus der Zeit der Monarchie, entstanden vor gut hundert Jahren in den Befreiungskämpfen gegen Türken und Serben, später aber von den Kommunisten verboten. Weil der mächtige Chor in der brodelnden Menge rundherum schiere Begeisterung auslöst, singt auch Dantschew aus voller Kehle mit: »Es rauscht der Maritza-Fluß - marsch, marsch, unter der Hymne des Zaren wollen wir den Feind besiegen.«

Für die 50 000 Menschen, die Nachmittag für Nachmittag zur Patriarchenkirche im Zentrum von Sofia strömen, steht der Feind diesmal mitten im eigenen Land. Er hat sich hinter schwerbewaffneten Polizeiketten drüben im Haus der Volksversammlung verschanzt: die Fraktion der regierenden Sozialisten, Nachfolger der einst allmächtigen Kommunistischen Partei.

»Rote Dreckskerle«, hat eben einer der Redner in Richtung Parlament geschimpft, »eine Lumpenpartei, die unser Land in geistiger Umnachtung in den Abgrund gerissen hat.« Von den starken Worten begeistert, schwenken die Demonstranten das blaue Fahnentuch der oppositionellen Union Demokratischer Kräfte; sie haben es an Angelruten befestigt. »Isbori, isbori«, braust der Ruf über den Platz: »Wahlen, Wahlen.«

Es ist anders als im 400 Kilometer entfernten Belgrad. Während dort die demokratische Bewegung mit ihrem Protestmarathon um die Anerkennung ihres Siegs bei den Kommunalwahlen ringt, wollen die Bulgaren eine Regierung verjagen, die sie vor zwei Jahren mit großer Mehrheit ins Amt berufen haben.

Tierarzt Dantschew, 57, glaubt, daß dieser Fehlgriff schlichter Nostalgie entsprang. Zwar hatte das Balkanvolk schon 1989 formal mit dem Kommunismus gebrochen und den Diktator Todor Schiwkow in den Ruhestand geschickt. Doch die radikalen Wirtschaftsreformen der ersten demokratischen Regierung stießen auf wenig Gegenliebe. Das neue Kabinett kam schon nach einem Jahr zu Fall, die nächsten Regierungen stolperten über ihre Halbherzigkeit.

Schattenwirtschaft, organisiertes Verbrechen, Bankenzusammenbrüche und galoppierende Inflation ließen das einst von mäßigem Wohlstand geprägte Land binnen weniger Jahre in bittere Armut abstürzen. Mit dem Versprechen, die Brotpreise radikal zu senken und neue Arbeitsplätze zu schaffen, kehrten 1994 die Ex-Kommunisten zurück.

Mit ihnen kam der Staatsbankrott. Die Betriebe - die nie konsequent privatisiert wurden - arbeiten inzwischen weitgehend auf Pump. Der Kurs der bulgarischen Währung stürzte von einst 70 auf 682 Lewa pro Dollar ab, der Brotpreis kletterte um das Achtfache.

»Ich wußte, daß die Kommunisten lügen«, sagt Dantschew, »aber die Mehrheit hatte Angst vor dem radikalen Bruch.« Das Institut für Umweltschutz an der Akademie der Wissenschaften, wo er als Professor angestellt ist, überweist ihm monatlich 20 000 Lewa, knapp 50 Mark.

Das Gehalt für Januar blieb ganz aus; allein diesen Monat muß die Regierung 130 Millionen Dollar Zinsen auf ihre Auslandsschulden zahlen, und die Devisenreserven sind bereits auf rund 500 Millionen geschrumpft.

Sorgfältig hatte Dantschew vor Monaten seine Spareinlagen auf drei vermeintlich sichere Geldinstitute verteilt. Jetzt sind die Konten gesperrt: Die aus dem einstigen Staatsjugendverband Komsomol hervorgegangenen Banker spekulierten waghalsig und schleusten hohe Summen ins Ausland.

Dantschews Sohn Momtschil ist nach seinem Musikstudium arbeitslos. Allein ein Nebenjob des Professors in der Tourismusbranche und die Findigkeit seiner bereits pensionierten Frau halten die Familie über Wasser. Gattin Ticha hat den Keller ihrer Wohnung im Vorort Ljulin mit Kartoffeln, Bohnen und Pilzen vollgestopft - eigene Ernte aus einem kleinen Landstück im Rhodopen-Gebirge.

Den meisten Bulgaren geht es schlechter. Im früher wohlgefällig auf die ärmere Provinz herabblickenden Sofia läßt sich das Elend nicht mehr verbergen. Der Gestank der Zweitakter Trabant und Wartburg ist noch immer allgegenwärtig. Der große Boulevard, der wieder den Namen der früheren Zarengattin Marieluise trägt, ist von Schlaglöchern zerfressen, die Fassaden bröckeln.

Die Geschäfte sind leer, die Preisschilder weisen Dollarbeträge aus. Vor den Wechselstuben, in denen die Bulgaren ihre Währung tauschen, gehen unrasierte Schlepper auf Kundenfang: Sie bieten einen besseren Kurs und betrügen mit gefälschtem Geld.

Auf dem Markt werden die Kartoffeln so teuer wie Orangen verkauft. In endlosen Schlangen stehen die Leute nach Öl und dem unverzichtbaren Schafskäse an; doch selbst der ist inzwischen knapp, seit Futtermangel die Bauern zur Notschlachtung zwingt. Hartnäckig hält sich in der Menge das Gerücht, die Ex-Kommunisten hätten zur Aufbesserung ihrer Finanzen Getreide und Schafe in den Nahen Osten exportiert.

In der Kirche der Heiligen Paraskewa werden zwölf Uhr mittags die ganz Hilflosen versorgt: Mit Milchkannen, ausgedienten Danone-Bechern und alten Nesquik-Dosen drängen sich Rentner um einen Kessel Tomatensuppe - Sofias Bürgermeister, der der Opposition angehört, hat die Speisung aus öffentlichen Spenden finanziert. Was Sozialarbeiterin Swetanka Jordanowa in die Gefäße löffelt, wird mitunter gleich in den Kirchenbänken verzehrt, die restliche Zeit verbringen die alten Leute damit, sich aufzuwärmen - die meisten haben, um zu sparen, zu Hause die Heizung abgestellt.

»Mein Gott, endlich wacht das geduldige Bulgarenvolk auf«, seufzt eine Frau. Doch die plötzliche Erhebung hat Bulgarien in ein gefährliches politisches Vakuum gestürzt, das die Not in den kommenden Monaten noch verschärfen könnte.

Schon vor Weihnachten war Ministerpräsident Schan Widenow zurückgetreten, weil seine Umgebung der Korruption bezichtigt wurde. Der von den Sozialisten bestimmte Nachfolger, Innenminister Nikolai Dobrew, kam gar nicht mehr ins Amt.

Nachdem das Volk am Freitag vorletzter Woche das Parlament stürmte, bezichtigen beide Lager einander, das Land ins Chaos zu stürzen. »Nein zu den Straßenpogromen«, lauten die Schlagzeilen der Sozialisten in ihrem Hausblatt duma. Die Ex-Kommunisten hätten die Kämpfe provoziert, glaubt dagegen Dimitar Dimanow, Vorsitzender der populären Gewerkschaft »Promjana« - Taxifahrer hätten per Funk den Befehl an die Polizei gehört, keine Krankenwagen ins Stadtzentrum zu lassen.

Auf den Kundgebungen vor der Newski-Kathedrale beteuert die Opposition, es gehe ihr nicht um Staatsposten, sondern um eine ehrliche, tüchtige Regierung. Auch Dimanow weiß, daß das Volk weniger eine neue Partei als vielmehr glaubwürdige Männer an der Spitze haben will. Simeon II. aus dem bulgarischen Zarengeschlecht, der voriges Jahr für 20 Tage aus dem spanischen Exil nach Sofia kam und überall in der Stadt auf Plakaten zu sehen ist, hat abgewinkt - die Bulgaren müßten sich selber helfen.

So sucht die Opposition ihre Chance in ungewohnter parteiübergreifender Einigkeit. Gemeinsam demonstrieren die 15 bislang heillos zerstrittenen Gruppen der Demokraten-Union vor der Patriarchenkirche: Radikaldemokraten, Glasnost-Aktivisten und eine Organisation, die für den Anschluß Mazedoniens kämpft, mittendrin zunehmend von ihrer Führung enttäuschte Sozialisten. Auch der Reformflügel der gespaltenen orthodoxen Kirche ist mit seinem Segen und Ikonen präsent.

Nur die von der Krise besonders betroffenen Studenten trauen der politischen Wende nicht. Borislaw Borislawow, Aspirant an der Sofioter Universität und Aktivist der Streikbewegung, befürchtet einen faulen Kompromiß hinter den Kulissen. »Beide Seiten wollen die Straßenproteste ins Leere laufen lassen.« Mit Kuhschellengeläut und Pfeifkonzert ziehen er und Tausende seiner Kommilitonen täglich noch vor der Hauptkundgebung durch die Innenstadt am Sitz der Sozialisten vorbei. Sie fordern öffentliche Verhandlungen und Neuwahlen spätestens im Mai.

Gegenüber der Parteizentrale steht das stattliche Gebäude der Zentralbank. Kaum jemand ahne, daß Bulgarien in der nächsten Zeit allein von dort aus regiert werden wird, sagt Dantschew. Der Internationale Währungsfonds als wichtigster Kreditgeber will einen »Währungsausschuß« einrichten, um künftig direkt über das Schicksal der Staatsbetriebe und über das Budget mitzuentscheiden.

Daß Bulgarien inzwischen selbst den notleidenden Russen als »Schande Osteuropas« gilt, daß sogar Albanien vorige Woche 3000 Dollar Hungerhilfe überwies, wird als schmerzhafte Demütigung empfunden. Aber mehr noch grämt den Patrioten Dantschew, daß die Bulgaren nun wie geschäftsunfähige Kinder vom Internationalen Währungsfonds entmündigt werden.

Das Volk dürfe nicht aufhören, »an ein Wunder zu glauben«, sagt der neue Präsident Petar Stojanow, der aus der Opposition kommt und am Mittwoch dieser Woche sein Amt übernimmt. Zehntausende suchten das Wunder derweil an den Lottoschaltern: Der Jackpot im Spiel »6 aus 49« war auf die unglaubliche Summe von 4,6 Millionen Lewa angewachsen - 11 500 Mark.

* Mit Fahndungsplakat des Ministerpräsidenten Widenow.

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