Bulgariens Abgesang auf seine Corona-Epidemie, die keine war

Bild: F. Stier

Unklar ist, ob die teils schikanösen Zwangsmaßnahmen Covid-19 klein hielten, auf Sofias Kneipenmeile Vitoschka herrscht wieder Gedränge und gehen die Menschen auf Tuchfühlung

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Flanierte Karl Lauterbach, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und Professor der Epidemiologie, dieser Tage über Sofias Boulevard Vitoscha, er müsste die Krise kriegen. Seit Wochen warnt Lauterbach die Zuschauer deutscher Talkshows, sie müssten noch auf Jahre hinaus unter den Ausnahmebedingungen der Corona-Pandemie leben, Kontakte beschränken und Abstand halten, um dem Coronavirus Einhalt zu gebieten. Auf Sofias Kneipenmeile Vitoschka herrscht aber Gedränge, gehen die Menschen auf Tuchfühlung.

Offiziell befindet sich Bulgarien noch bis zum 13. Mai 2020 im Corona-Ausnahmezustand, doch zum 6. Mai hat die Regierung von Ministerpräsident Boiko Borissov bereits einige Zwangsmaßnahmen gelockert. Die die Freizügigkeit der Bulgaren einschränkenden Kontrollpunkte an den Peripherien der Hauptstadt Sofia und der Bezirksstädte wurden beseitigt. Nun gilt wieder freie Fahrt für freie Bürger Und die Gastronomen dürfen in den Freibereichen und Wintergärten ihrer Cafés und Restaurants wieder Gäste bedienen.

Mit Erlass des Gesundheitsministers Kiril Ananiev vom 11. Mai werden auch wieder Museen, Galerien und sogar Kinos geöffnet unter der Bedingung, dass Hygienevorschriften und Abstandsregeln eingehalten werden. Nach sieben Wochen Lockdown mit verwaisten Schulen und Kindergärten, geschlossenen Shopping Malls und Kneipen, vorübergehenden Zugangsbeschränkungen zu Parks und einer Phase strikter Maskenpflicht im öffentlichen Raum kommen die gewährten Lockerungen wesentlichen Etappen der Normalisierung des Alltagslebens gleich.

Der St. Georgstag am 6. Mai ist für die Bulgaren als Tag der Tapferkeit und bulgarischen Armee ein hoher Feiertag. An seinem frühen Morgen zeigten die nationalen Fernsehsender Beamte der Gesundheitsbehörden unmittelbar vor Öffnung der Gaststätten, wie sie mit dem Zollstock die Einhaltung des gebotenen Mindestabstands von einem Meter fünfzig zwischen den Tischen überprüfen. Bereits am darauffolgenden Wochenende wird beim Gang über den Boulevard Vitoscha aber augenfällig, dass sich die Bestuhlung in der neuen Normalität post Corona kaum unterscheidet von der alten ante. Die Bedienung trägt nun Mund-Nasen-Schutz, die Gäste aber sitzen dicht beieinander und blasen sich den Rauch ihrer Zigaretten und Wasserpfeifen gegenseitig ins Gesicht, als wäre nichts gewesen. Um eine plastische Vorstellung von der Menge der über den Tischen schwebenden Aerosole und ihrem potenziellen Gehalt an neuartigem Coronavirus zu haben, bedürfte es sicherlich der Expertise eines Lauterbachs.

Aus dem Strom der Passanten lassen sich drei Typen kategorisieren. Die meisten von ihnen unterscheiden sich in Nichts von den Spaziergängern auf der Vitoschka im Frühling des vergangenen Jahres. Sie scheinen unbeeindruckt von der Lauterbachschen Drohkulisse verheerender Infektionsgefahr. Andere geben sich gleichermaßen risikobewusst wie entspannt, lassen ihren Mund- und Nasenschutz vom Ohr hängen oder tragen ihn um den Hals. Die Vollmaskierten, die erkennbar um Gesundheit und Leben fürchten, auf den Bummel über den Boulevard indes nicht verzichten wollen, sind eine kleine Minderheit.

Als eines der ersten europäischen Länder hat Bulgarien am Freitag, dem 13. März wegen der Corona-Pandemie den Ausnahmezustand verhängt. Es gab zu diesem Zeitpunkt in dem Balkanland mit seinen knapp sieben Millionen Bürgern dreiundzwanzig bekannte Corona-Infektionen und einen in Zusammenhang mit Covid-19 Verstorbenen. Zwei Monate später verzeichnet der Nationale Operative Stab zur Bekämpfung der Corona-Pandemie 1981 bekannte Infizierte und 91 an oder mit Covid-19 Gestorbene. Von 403 im Tagesverlauf des 10. Mai auf Coronavirus Getesteten erwiesen sich 26 als infiziert. Diese tagesaktuelle Positivrate von 6,45% entspricht knapp dem Doppelten der Gesamtrate positiv Getesteter während der vergangenen zwei Monate in Höhe von 3,44%.

Bezogen auf eine Million Einwohner hat Bulgarien im Vergleich zu Deutschland nur ein Viertel so viele Corona-Tests durchgeführt und dabei jeweils etwa ein Siebtel an Infektionen und im Zusammenhang mit Covid-19 stehenden Todesfälle festgestellt.

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Der repressive Charakter des Pandemieregimes

Zusammen mit Estland, Slowenien und der Slowakei gehört Bulgarien zu den EU-Ländern, in denen sich die Coronavirus-Epidemie am schwächsten manifestiert. Regierungschef Boiko Borissov hält es für sein Verdienst, das Virus erfolgreich eingedämmt zu haben. Schließlich habe er als einer der Ersten in der EU den Lockdown verfügt und mit dem Nationalen Operativen Stab unter Führung von Generalmajor Prof. Dr. Ventsislav Mutaftschiiski ein strenges, aber gerechtes Pandemieregiment eingesetzt.

Tatsächlich war Bulgariens Lockdown auf merkwürdige Weise zwiespältig ausgeprägt. Verglichen mit europäischen Ländern wie Spanien, Italien oder Griechenland vergleichsweise liberal, in manchen Maßnahmen dagegen absurd und offen schikanös. Obwohl mit Verkündigung des Ausnahmezustands eigentlich alle Geschäfte außer Lebensmittelläden, Apotheken, Drogerien, Banken und Tankstellen schließen sollten, konnten Möbelläden, Baumärkte und viele andere Geschäfte ihren Betrieb unbehelligt fortsetzen.

Die Schulen wurden bereits Anfang März geschlossen, aber nicht wegen Corona, sondern wegen der gewöhnlichen Influenza-Epidemie. Außer für die Prüflinge werden sie vor den Sommerferien gar nicht mehr aufgemacht, so dass viele Schüler zu Schulbeginn Mitte September über ein halbes Jahr ohne Schulpräsenz geblieben sein werden. Während in Deutschland in der Regel individueller Sport in städtischen Parks gestattet blieb, durften in Bulgarien nur Hundebesitzer zum Gassigehen in die Grünanlagen. Unbefugten Parkgängern drohten grotesk hohe Geldbußen.

Am unverhohlensten zeigte sich der repressive Charakter des Pandemieregimes der beiden Generäle Borissov und Mutaftschiiski in der sechswöchigen Abriegelung der Hauptstadt Sofia und der Provinzzentren. Nur Autofahrer, die auf ihren Passierscheinen triftige Gründe angeben konnten, wurden durchgelassen, rund zweihundertdreißigtausend von ihnen zum Umkehren gezwungen

Mit den Bulgaren aber, die sich durch Angabe fadenscheiniger Gründe ihre Ausreise erschlichen hatten, ging Regierungschef Borissov hart ins Gericht. "In zwei bis drei Wochen können wir in der Hölle sein", schrieb er ihnen Anfang April ins Stammbuch. Und obwohl sich diese Befürchtung nicht bewahrheitete, stellte er Mitte April weitere apokalyptische Perspektiven in Aussicht: "Wenn es bei uns wie in anderen Staaten wird, werden wir Kühllastwagen nicht für den Fleischtransport nutzen, sondern zur Aufbewahrung von Toten, und die Plätze, auf denen sonst Kinder spielen, werden zu Leichenschauplätzen."

Hat Bulgarien Covid-19 überstanden?

Geht man heute durch die Straßen Sofias, erscheint die Erinnerung an die Absurditäten des Coronavirus-Ausnahmezustands bereits phantasmagorisch. Heute laufen die Sofioter wieder frei durcheinander; kaum zu fassen, dass noch nicht einmal vor zwei Wochen Polizisten mit rot-weißen Plastikbändern Stadtplätze absperrten, um die Laufwege der Passanten in vorgeschriebene Bahnen zu kanalisieren.

Würden die Bulgaren ihr Verhalten gemäß Prognosen internationaler Experten wie Karl Lauterbach, dem Institute for Health Metrics and Evaluation der Universität Washington (IHME) oder dem in Schweden ansässigen European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) ausrichten wollen, wären sie in einem kaum auflösbaren Dilemma. Obwohl sie bisher gar keine richtige Coronavirus-Welle erlebt haben, müssten sie gemäß Lauterbach für die nahe Zukunft mit einer zweiten oder gar dritten Welle rechnen. Dagegen haben sie dem IHME zufolge den Gipfel ihrer Pandemie mit dem 24. April bereits hinter sich gelassen.

In ihren düstersten Voraussagen prognostizierten die Washingtoner Wissenschaftler für Bulgarien für den Zeitraum vom 19. April bis zum 30. April täglich neun bis zehn Corona-Tote mit einem worst case scenario von bis zu 57 Toten pro Tag. Noch vor kurzem wies das IHME-Modell aus, bis zum 4. August seien 303 Corona-Tote zu erwarten. Am 10. Mai wurde dieser Wert auf 109 hinunterkorrigiert.

Für die Direktorin des ECDC Dr. Andrea Ammon wiederum ist Bulgarien zusammen mit dem Vereinigten Königsreich, Polen, Rumänien und Schweden noch nicht aus dem Schneider. Bei einer Anhörung im Europäischen Parlament Anfang Mai sagte Ammon, während die meisten EU-Länder einen "substanziellen Rückgang" zu verzeichnen hätten, sei das Balkanland das einzige EU-Land mit steigenden Fallzahlen.

Inwiefern die von Bulgariens Regierung erlassenen Lockdown-Maßnahmen tatsächlich bewirkt haben, dass sich das Coronavirus-Infektionsgeschehen stabil auf Sparflamme abspielt, lässt sich kaum zweifelsfrei bestimmen. Zuverlässiger lassen sich dagegen ihre wirtschaftlichen und sozialen Folgen prognostizieren. Die Coronavirus-Krise hat Bulgariens Schülern einen Unterrichtsausfall von drei Monaten eingebracht und vielen Kranken notwendige Operationen und Heilmaßnahmen in Kliniken und Arztpraxen verwehrt. Für die Volkswirtschaft des sprichwörtlich ärmsten Landes der Europäischen Union sagt die Europäische Kommission eine Minderung der Ausfuhren um 16,3%, einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 7,2% und einen Anstieg der Arbeitslosigkeit um rund drei Prozentpunkte auf 7,0% voraus.

Bulgarischer Infektiologe bestreitet, dass Covid-19 eine Epidemie war

Die von ARD-Chefredakteur Rainald Becker als Spinner und Wirrköpfe verunglimpften Kritiker der Corona-Lockdown-Maßnahmen sind in Bulgarien rar, aber es gibt sie. Als ihr exponiertester Vertreter kann Dr. Atanas Manguerov gelten, der Chef der Fakultät für Infektionskrankheiten der Medizinischen Universität Sofia. Die Gefährlichkeit des neuartigen Coronavirus bestreitet er nicht, sieht aber keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen dem von ihm ausgelösten Infektionsgeschehen und schweren Grippe-Epidemien.

Für beide hält er Hygienemaßnahmen und Abstandsregeln für ausreichend, zusammen mit verstärktem Schutz für die Risikogruppen der alten und kranken Menschen. "In diesen zwei Monaten, in denen wir uns im Ausnahmezustand befinden, sehen wir, dass 86 Menschen am Coronavirus gestorben sind. Im gleichen Zeitraum sind im Land 20.000 Menschen an allen möglichen anderen Krankheiten gestorben. Jetzt ist die Frage, wie wir mit einem Minimum an Schäden aus diesem Zustand herauskommen", sagte er Anfang Mai.

Dr. Manguerov hat den nahezu globalen Lockdown von Anfang an für überzogen und unangemessen erklärt, fürchtend, dass seine wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen verhängnisvoller sein könnten als die Infektionen durch das aktuelle Coronavirus. Rein mathematisch spricht der Infektiologe Bulgariens Coronakrise den Charakter einer Epidemie ab. Um eine solche handle es sich in seinem Land, wenn zweihundert von zehntausend Menschen nicht nur infiziert, sondern auch erkrankt seien. Davon aber sind die Zahlen in Bulgarien weit entfernt.