Alkoholsucht: Wege aus dem Dilemma. 70 000 Menschen sind allein in Hamburg alkoholkrank. Wann beginnt die Sucht? Wie kommt man von dem Gift los? Darüber sprachen Betroffene und Experten im Evangelischen Krankenhaus Alsterdorf bei “Medizin vor Ort“.

Allein in Hamburg sind 70 000 Menschen alkoholabhängig, 120 000 trinken so exzessiv, daß Schäden zu erwarten sind, schätzen Experten. "Wenn der Alkohol zum Problem wird" - lautete das Thema der Veranstaltung "Medizin vor Ort" von NDR 90,3 und Hamburger Abendblatt im Evangelischen Krankenhaus Alsterdorf. Betroffene und Suchtexperten sprachen dort über ihre Probleme und mögliche Wege aus der Alkoholabhängigkeit.

"Ich habe den Alkohol früh als Seelentröster und Hemmungslöser benutzt", berichtet Lothar (49) von den Anonymen Alkoholikern (AA). Er war 20 Jahre vom Alkohol abhängig und ist seit zehn Jahren "trocken". "Der Alkohol hat mich lockerer und amüsanter gemacht."

Anders verlief die Krankheit bei Detlev Dettbarn von der evangelischen Landesarbeitsgemeinschaft für Suchtkrankenhilfe (Elas). Erst nach jahrelangem normalen Trinkverhalten begann er, seine Probleme in Alkohol zu ertränken. "In der Kneipe ging es mir gut, ich konnte lachen und alle Probleme waren plötzlich vergessen." Doch als seine Tochter einmal weinend auf dem Bett saß, weil er wieder betrunken war, begriff er endlich: Er war süchtig.

"Sobald der Alkoholgenuß zwanghaft geworden und nicht mehr zu kontrollieren ist", sagt Dr. Georg Poppele, Chefarzt der Internistischen Abteilung des Evangelischen Krankenhauses Alsterdorf, "ist eine Sucht entstanden." Für den Betroffenen steht das Suchtmittel im Mittelpunkt seines Denkens, Fühlens und Handelns. Beruf, Familie, Freunde oder Hobbys treten immer mehr in den Hintergrund.

Dabei können Süchtige ihr unstillbares Verlangen oft lange "tarnen". "Ich wurde auf die Erkrankung meines Mannes erst durch eine Nachbarin aufmerksam", erzählt Lena von Al-Anon, einer Selbsthilfegruppe für Familien und Freunde von Alkoholikern.

"Sobald bereits morgens Alkohol konsumiert wird, um Zittern oder Unruhe zu bekämpfen, um überhaupt zu funktionieren, liegt offensichtlich eine Alkoholabhängigkeit vor", sagt Poppele. Riskant wird der Alkoholkonsum aber bereits, wenn Männer täglich mehr als drei kleine Bier und Frauen mehr als zwei trinken.

Die körperlichen Folgen des Alkoholkonsums sind dramatisch: "Alkohol ist Gift für alle Zellen des Körpers", berichtet Poppele. Besonders leiden die Zellen der Leber, der Bauchspeicheldrüse und des Gehirns. Wenn die Alkoholabhängigkeit früh erkannt werde und der Betroffene aufhöre zu trinken, dann könne sich der Körper regenerieren. Ein glückliches Beispiel ist Detlev Dettbarn: "Ich habe mich von der Sucht vollständig erholt und fühle mich wieder gesund und fit." Lothar hingegen leidet bis heute unter den Folgen seiner Abhängigkeit. Das Gift hat tiefe Spuren in seinem Körper hinterlassen.

"Nicht nur der Körper, auch die Seele leidet. Alkohol in großen Mengen kann erhebliche Auswirkungen auf die Psyche haben. Es kann beispielsweise eine schwere depressive Störung auftreten", betont Dr. Hans-Joachim Funke. Der Psychiater ist Chef des Krankenhauses Alsterdorf.

Einer der ersten Schritte zur Bekämpfung der Sucht ist der körperliche Entzug. "Im Krankenhaus Alsterdorf wird ein qualifizierter Entzug durchgeführt. Das heißt, nach dem körperlichen Entzug, der knapp eine Woche dauert, machen wir eine Motivationstherapie", erläutert Suchttherapeutin Stefanie Schmolke. "Die Motivationstherapie dauert zwei Wochen. Sie soll die Patienten ermutigen, eine Entwöhnungsbehandlung zu beginnen."

Der Entzug sollte professionell durchgeführt werden, rät Poppele. "Zittern, Unruhe, Schlaflosigkeit, Übelkeit und Erbrechen, die typischen Entzugserscheinungen, können mit Medikamenten oder Akupunktur abgemildert werden."

Wie geht es nach einem körperlichen Entzug weiter?

Auf sie folgt die Entwöhnungsbehandlung, die fast zwei Jahre dauert. Welche Behandlung letztlich gewählt wird, sei nicht entscheidend, waren sich die Experten einig. Wichtig sei, daß die Betroffenen überhaupt ein Behandlungsangebot annähmen. So bieten die Suchtberatungsstellen Eidelstedter Platz und Lukas ambulante Hilfe. "Wir informieren über Behandlungsangebote und erstellen individuelle Pläne für die Therapie", sagt Leiter Frank Craemer. Neben ambulanten Behandlungen gibt es die stationäre Therapie beispielsweise im Fachkrankenhaus Hansenbarg oder teilstationäre Betreuung in Tageskliniken wie im SuchtTherapieZentrum (STZ) Hamburg. "Die erste spezielle Behandlung eines Alkoholkranken erfolgt oft mehr als zehn Jahre nach Beginn der Sucht", weiß Dr. Robert Stracke, Chefarzt der Fachklinik Hansenbarg. "Durch Verleugnung und Verdrängung nimmt der Betroffene sein Problem nicht wahr. In vielen Fällen bedarf es eines konstruktiven Drucks von außen."

Der kann auch von Arbeitskollegen und Vorgesetzten kommen. "Ein Hinweis auf ein Alkoholproblem können Veränderung in der Arbeitsleistung, zunehmendes Fehlen und Gereiztheit sein", so Angelika Nette vom Büro für Suchtprävention. Viele Großbetriebe haben vor zwanzig Jahren begonnen, ein Hilfssystem im Betrieb aufzubauen. Dazu gehören Suchtkrankenhelfer, Sozialberater oder der Betriebsarzt. "Wichtig ist, daß die Führungskräfte geschult werden, Konfliktgespräche wertschätzend mit dem Mitarbeiter zu führen", betont Nette.

Uneinig waren sich die Experten, ob in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit den Suchtkranken tatsächlich Hilfe angeboten wird. "In der Regel weiß der Vorgesetzte, daß ein Alkoholproblem besteht. Aber solange der Mitarbeiter Leistung bringt, wird es geduldet. Wenn es irgendwann aber nicht mehr geht, dann kommt die Kündigung", sagt Lothar. Angelika Nette hingegen betont, daß viele Vorgesetzte bemüht seien, den Suchtkranken zu helfen.

Trotz vieler Hilfsangebote wird jeder zweite Alkoholabhängige innerhalb von vier Jahren wieder rückfällig. Immerhin 40 Prozent von ihnen fangen sich binnen drei Tagen wieder. Ein Rückfall sollte als Schritt zur Bewältigung der Erkrankung gesehen werden, rät Funke.

Wie kann man sich vor einem Rückfall schützen? Das sei individuell sehr unterschiedlich, so Schmolke. Ein Ziel der Therapie sei, herauszufinden, bei welcher Situation Alkohol getrunken wurde. So wird das Bewußtsein für Hochrisikosituationen geschärft. "In der Elas Selbsthilfegruppe haben wir einen Notfallplan entwickelt. Er beinhaltet, daß wir rund um die Uhr zu erreichen sind", erzählt Dettbarn. Das gilt auch für die Anonymen Alkoholiker.

Ein besonderes Angebot für Frauen (auch mit Kindern) bietet das SuchtTherapieZentrum Hamburg der Marthastiftung. "Wir unterstützen diejenigen, die nach einer stationären Therapie nicht in ihr altes Umfeld zurückkehren können. Wir erarbeiten individuelle Programme, um die Frauen stark zu machen für riskante Situationen", sagt die Leiterin Gabriele König.

Zu dem brisanten Thema "kontrolliertes Trinken" lautete der Rat der Experten: Mit einer diagnostizierten Sucht, deren Kernproblem der Kontrollverlust ist, ist kein kontrolliertes Trinken mehr möglich. Der Grund: Das Gehirn reagiert ein Leben lang hypersensibel auf Alkohol.

"Entscheidend für eine erfolgreiche Behandlung der Alkoholabhängigkeit ist, sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen", unterstreicht Funke. Die Gespräche mit anderen Betroffenen seien ihm sehr wichtig, berichtet Lothar. "Wir teilen Kraft, Erfahrung und Hoffnung. Mindestens einmal wöchentlich nehme ich an einem Treffen teil."

Während bei den Anonymen Alkoholikern die einzelnen Berichte nicht kommentiert werden, wird bei Elas auch debattiert. Partnern und Kindern, die für Außenstehende oft unsichtbar massiv unter der Sucht des Familienmitgliedes leiden, bietet Al-Anon Hilfe an.

Buchempfehlung: "Lieber schlau als blau", Johannes Lindenmeyer, Beltz-Verlag, 256 S., 24,90 Euro.